Geschichte der Europa-Union Berlin

Hoffnung auf ein besseres Europa 1949, 1989, 2024

Festrede zum 75. Jubiläum der Europa-Union Berlin
von Katharina Wolf

 

Wie fängt man eine Festrede an am Tag des Gedenkens an das gescheiterte Attentat auf Hitler?

Mit dem Erinnern an den 5. Gedenktag, nämlich den 20. Juli 1949. An diesem Tag wurde die Europa-Union Berlin gegründet. Ohne dass die Quellen dies bislang bestätigen, erscheint ein bewusstes Anknüpfen der Protagonisten naheliegend. Denn Carl-Dietrich von Trotha, der Gründungsvorsitzende der Europa-Union Berlin (die EUB), wird dem Kreis der Attentäter des 20. Juli 1944 zugerechnet, wenn auch von der Gestapo dies nicht bewiesen werden konnte.

Warum dieses Datum, frage ich mich. 
Weil davon ein Hoffnungszeichen ausgeht. 
Und „HOFFNUNG“ soll der rote Faden durch meine Festrede sein. 
HOFFNUNG auf ein BESSERES EUROPA!

75 Jahre ist es nun schon her, dass die EUB gegründet wurde. 
Wir haben in diesem Jahr schon einige 75. Geburtstage gefeiert! Und einige Feiern kommen noch.
Nato (4. April), Europarat (5. Mai), Grundgesetz (23. Mai), die Europäische Bewegung Deutschland (13. Juni), Bundesrepublik Deutschland und (7. Oktober) und die Deutschen Demokratischen Republik. 

75 Jahre: ist das Alt? Ist das Jung? 
In jüngster Zeit folgt ja ein Generationswechsel schon alle 15 Jahre. 
Wir hätten es dann also schon mit 5 Generationen zu tun, die seit der Gründung der EUB das Licht der Welt erblickten. 

Jetzt machen wir mal das Kopfkino an und lassen die folgenden fünf Etappen an unserem geistigen Auge vorbeiziehen: 
1949 - 1964; 1964 - 1979; 1979 - 1994; 1994 - 2009; 2009 - 2024

In Vorbereitung dieses Jubiläumsjahres der EUB hat sich in der EUB eine AG Geschichte gegründet. Diese hat für die Anfangsjahre der EUB erstaunliche Erkenntnisse zutage gefördert, auf die ich noch eingehen werden. 
Wie sich jedoch zeigt, wartet auf die AG Geschichte noch viel Arbeit. Denn die Geschichte der EUB bis heute ist kaum dokumentiert und muss mühsam aus verschiedensten Quellen zusammengetragen werden.  
Mal sehen, was in den nächsten fünf Jahren bis zum 80. Geburtstag schon der Vergessenheit entrissen werden konnte!

Ich konzentriere mich heute auf zwei Phasen der EUB-Geschichte: 
die erste Zeit von 1949 bis 1989 und 
die zweite Phase von 1989 bis heute. 



Die Jahre von 1949 bis 1989

In der rbb-Sendung „Berlin - Schicksalsjahre einer Stadt 1949 bis 1952“   beschreibt Autor Lutz Pehnert Berlin so, ich zitiere auszugsweise:
Nach fast elf Monaten endet die Berlin-Blockade. Die West-Sektoren müssen nicht mehr aus der Luft versorgt werden. Noch ist die Stadt offen, aber sie führt ein Doppelleben: mit zwei Oberbürgermeistern, zwei Währungen, zwei Ideologien. Die zweifache Staatsgründung 1949 vertieft die Zerrissenheit. … Die Sehnsucht nach Normalität ist groß. Doch das Stadtbild ist immer noch vom Krieg geprägt: Die Spielplätze der Kinder sind Ruinen. …“
Viele von Ihnen hier im Raum haben ihre ganz persönlichen Erinnerungen. Vielleicht aus eigenem Erleben, vielleicht aus den Erzählungen der Vorgenerationen. 

Was bringt nun Menschen jener Zeit dazu, einen Europa-Verein in Berlin zu gründen? 
Die AG Geschichte hat ihre Erkenntnisse bereits in einigen kurzen Artikeln auf der Webseite der EUB veröffentlicht. 
Daher beschränke ich mich hier auf ein paar Eckpunkte: 
Die Alliierte Kommandantur am 23. April 1949 mit Anordnung BK/O (49) 79 die Gründung einer sogenannten Europa-Union billigen. Denn: der sowjetische General hat sich der Stimme enthalten! 

Danach gibt es kein Zögern mehr. 

Auf der am 20. Juli 1949 folgenden Gründungsversammlung im Studentenhaus am Steinplatz im Bezirk Charlottenburg werden 
-    Dr. Carl Dietrich von Trotha zum Ersten Vorsitzenden und 
-    Dr. Ernst Straßmann, 
-    Dr. Liselotte Korsch, 
-    Dr. Bruno Schmitz-Landers und der 
-    Student Josef Stingl 
zu weiteren Vorstandsmitgliedern gewählt. 
Insgesamt finden sich im ersten Vorstand Vertreter verschiedener Widerstandsbewegungen gegen das Nazi-Regime zusammen. 
Rechtsanwalt Willi Könemann wird Generalsekretärs. 
Der damalige Stadtverordnete Otto Bach (SPD) wird in der Geschichte der EUB noch an wichtigen Weichenstellungen beteiligt sein. 
In den 50er Jahren organisierte die EUB sogenannten „Europäische Arbeitstreffen“. Bis 1960 waren es 50 Treffen. 
Aus heutiger Sicht könnte man dies als erste Angebote europapolitischer Bildung in Berlin ansehen. 

Um ehrenamtliches und gewerbliches Engagement der EUB klarer zu trennen, wurde 1961 bis 1963 ein „Europahaus“ gegründet. Mit Lottogeld konnte eine bis dahin ungenutzte Villa für diese Zwecke umgebaut werden. 
Wir alle kennen diese Villa auf der Bismarckallee: es ist die EAB, die Europäische Akademie Berlin. 
Dieses Haus hat ihren Namen in den 1970er Jahren erhalten. 
Und hier feiern wir heute das Jubiläum.  

In den 1980er Jahren hat sich die EUB mit europapolitischen Forderungen in die Landespolitik Berlin eingemischt. 
Drei Stichworte: 
-    Als Schulversuch gestartet sind die Staatlichen Europa-Schulen noch heute fest in der Berliner Schullandschaft verankert. 
-    Ausländerpolitik und 
-    ein Wahlrecht für in Berlin lebende Ausländer
waren weitere Forderungen. 

Die AG Geschichte wird weiter forschen. 
Für die 80. Geburtstagsfeier kündigt sie nicht nur Aufklärung zu einem Spionagefall Anfang der 60er Jahre an. 
Auch eine Werkschau zu Volker Noths Europa-Plakaten ist geplant. Im Auftrag der EUB hat er jeweils zu den Europatagen Europa-Plakate gestaltet. 

Das waren jetzt ein paar Appetithappen zur ersten Phase der EUB. Jetzt kommt ein kleiner Zwischengang.

Denn: wenn eine „Frau Europas“ die Festrede für die EUB hält, soll das Wirken von Frauen in und für die EUB nicht unerwähnt bleiben. Also Ärmel hoch und los. 

Frau Dr. Liselotte Korsch wurde in den ersten Landesvorstand der EUB gewählt. Die AG Geschichte hat zu ihr noch keine weiteren Erkenntnisse zusammentragen können. Aus meiner kurzen Internetrecherche habe ich diesen Namen in zwei Archiven gefunden: Einmal als „Lieselotte Korsch (Heidelberg)“ in einer Liste von „Gesuchen „nicht-arischer“ Ärzte um Vermittlung in den Missionsdienst“ .  Und zudem als „Dr. med. Lieselotte Kingma-Korsch, Berlin-Friedenau: politische Konferenz der Europa-Union in Wiesbaden“. Sie wird dort als Korrespondenzpartnerin von Christa von der Marwitz bezeichnet. Frau von der Marwitz war nicht nur Mitbegründerin der EUD Hessen, sondern auch Vizepräsidentin der Europa-Union (Bonn). 
Ich hoffe auf die Bestätigung meiner Recherche.

Die zweite Frau, die ich erwähnen möchte ist Hildegard Schlegel: In den 50er Jahren war sie Geschäftsführerin der EUB. Und dann hat sie die „Europäischen Arbeitstreffen“, die zum Nukleus für die Gründung der EAB wurden, initiiert und maßgeblich geprägt. Auch hier hoffe ich auf das weitere Rechercheglück der AG Geschichte. 

Als drittes Beispiel des Wirkens von Berliner Frauen in und für Europa möchte ich an Ursula Hirschmann erinnern. Ihre Geschichte ist inzwischen gut aufbereitet und engstens mit der Geschichte der Europäischen Föderalisten verknüpft. Sie war es, die das auf Zigarettenpapier verfasste Ventotene Manifest aufs Festland schmuggelte und verbreitete. 
Frau Hirschmann ist für mich zudem ein Vorbild, weil sie 1975  in Brüssel die „Femmes pour l’Europe“  gründete. Sie wollte damit die Rolle der Frauen in der europäischen Bewegung stärken. 
Dazu wüsste ich wirklich gerne mehr. 

„Hoffnung“ ist der roten Faden meiner Rede. Wie könnte man nun die ersten 40 Jahre der EUB nach ihrer Gründung zusammenfassend beschreiben? 

Die Antriebsfeder aller Engagierten in und für die EUB möchte ich daher so formulieren: 

HOFFNUNG AUF EIN FRIEDLICHES EUROPA

Und vor allem
HOFFNUNG AUF EIN GEEINTES EUROPA 

Und dann kam 1989, die Wende. Mit der Maueröffnung am 9. November 1989, ein Tag an dem sich die Reichskristallnacht jährt, wurde der Weg bereitet für die Überwindung der deutschen Teilung. Der Kalte Krieg endete, die Hoffnung auf ein geeintes Europa wurde zur Wirklichkeit mit dem Beitritt von vielen Staaten Mittel- und Osteuropas zur Europäischen Union. Die Idee eines Weltfriedens durch friedliche Koexistenz in einer eng vernetzten wirtschaftlichen Zusammenarbeit schien in greifbare Nähe zu rücken. 

Was blieb von der „Hoffnung auf ein besseres Europa“? Wir kennen die Stichworte: 
-    Die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes, 
-    die Erweiterung der EU, 
-    die Einführung des Euro, …
Viele Projekte konnten wir angehen und umsetzen. 

Die 
„HOFFNUNG AUF EIN BESSERES EUROPA“ änderte sich in die 
„HOFFNUNG AUF EIN VERTIEFTES EUROPA“. 
Und dann: 
2005 scheitert die Europäische Verfassung, 
Im Herbst 2014 versammelten sich Zehntausende bei Demonstrationen von Pediga und co. 
Und dann noch das Brexit-Votum 2016. 

Dies waren dramatische Dämpfer für die Hoffnung auf ein vertieftes Europa. 
Und gleichzeitig sind sie Facetten 
eines völlig anderen Bildes, 
eines anderen Konzepts von Europa. 
Kern des anderen Konzepts ist das Wohl der eigenen Nation. Dieses Wohl der eigenen Nation ist der Maßstab, an dem Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, eben alle europäischen Werte gemessen werden.

Aber wir, die wir europäische Föderalisten, die in der Europa-Union engagiert sind, hören nicht mit der Beschreibung von Entwicklungen und philosophischen Betrachtungen der Großwetterlage auf. 
Wir fragen uns: was können wir tun? 
Und wie können wir was tun?

Nun bin ich ja auch ehrenamtliche Vorsitzende des Europa-Union Sachsen. Im Austausch mit den anderen ostdeutschen Landesverbänden stellen wir seit Jahren fest, dass die bekannten Argumentationsmuster zur europäischen Einigung kritisch oder gar ablehnend wahrgenommen werden. 
Die Logik der europäischen Einigung als Friedenssicherung wird als Propaganda missdeutet. 

Und das passiert nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Mittel- und Osteuropa. Dies konnte Astrid Lorenz mit dem Jean-Monet-Center an der Uni Leipzig erst kürzlich in einer fünfjährigen Forschungsarbeit nachweisen. 

Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Erklärungsversuchen und Begründungen für die starke Anziehungskraft des Nationalismus. 

Ich nehme dies als eine große Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer - definierten - Gruppe wahr. 

Die Menschenrechte sprechen dem Individuum eigene Rechte zu und nehmen es in die Verantwortung für sich selbst. Der daraus erwachsene Individualismus zeigt sich heute in vielen Extremformen. Damit wird das Ideal der Menschenrechte diskreditiert. 
Aus der Betonung des Individualismus kann die Überforderung des Einzelnen entstehen. Wir alle kennen Aussagen wie: „da kann ich allein eh nichts ändern“, „auf mich kommt es ja eh nicht an“. 
Insofern kann ich das mit einem überbordenden Individualismus einhergehende Missbehagen gut nachvollziehen. 

Andererseits hilft die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bei der Orientierung in einer komplexen Welt, die zudem als täglich komplexer werdend wahrgenommen wird. Die Orientierung in und durch eine Gruppe hilft den Druck der Veränderung und den Druck der Anpassung auf die Gruppe zu verteilen. 
Auch dies kann ich gut nachvollziehen. 

Allerdings lehne ich die rückwärtsgewandte Vereinnahmung und Absolutsetzen der Gruppe gegenüber dem Einzelnen durch politische Parteien ab. Denn daraus erwächst die Gefahr der Gleichmacherei bei gleichzeitiger Ausgrenzung. Daraus erwächst die Gefahr, Verantwortung von sich auf andere abzuwälzen. 

Und wie kommen wir da raus? 
Beispiele aus der Fußballwelt helfen da ja häufig!
Daher zitiere ich Julian Nagelsmann nach dem EM-Aus der deutschen Fußballmannschaft: 
„Ich wünsche mir, dass wir in diesem Land verstehen, dass es gemeinsam einfach besser geht. Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig.“  

Entgegen dem allgemeinen Gefühl, man könne ja eh nichts ausrichten, betont Julian Nagelsmann das Gemeinsame, das Wir. So hat er die Mannschaft eingeschworen mit der Botschaft: 
Im Kleinen kann ich jeden Tag die Gesellschaft ein kleines bisschen besser machen. 

Die Antwort lautet also: Wir brauchen beides. Wir brauchen das „Ich“ und wir brauchen das „Wir“.  Nur durch ein „Ich im Wir“ sind wir in der Lage, uns der Komplexität des heutigen Lebens in unserer Gesellschaft zu stellen, uns für den Frieden in Europa einzusetzen und ein starkes Europa in der Welt zu gestalten. Nur so sind wir in der Lage weiterhin an einem friedlichen Europa zu bauen.

Und genau dieses „Ich im Wir“ erlebe ich in der Europa-Union. 
Und so bin ich jeden Tag dankbar 
-    für die Bürgerinnen und Bürger, 
-    für die alten und die jungen Menschen, 
-    für die hier Geborenen wie für die Zugezogene und Auswärtigen, 
die sich in der und für die Europa-Union der Aufgabe stellen, die komplexe Welt der europäischen Einigung zu erklären. Denn wer versteht, fühlt sich verstanden und als Teil des Ganzen wahrgenommen. 

So leisten wir unseren kleinen Beitrag, die Gesellschaft jeden Tag ein kleines bisschen besser machen.
Das macht mir Hoffnung! 
Das ist die HOFFNUNG DES JAHRES 2024! 
Das ist 
HOFFNUNG AUF ZUKUNFT
HOFFNUNG AUF FRIEDEN
HOFFNUNG AUF EUROPA

Die Rede von Katharina Wolf gibt es auch hier zum Download als pdf.